VON CORNELIA SENG

Heute Abend gedenken wir des 9. November: Der Reichspogromnacht 1938 und dem Fall der Berliner Mauer 1989. 

In meiner Heimatstadt Kassel hat die Reichspogromnacht schon zwei Tage früher, schon am 7. November 1938, stattgefunden. Die Plünderung der Synagoge, Vandalismus in jüdischen Geschäften, Übergriffe auf jüdische Bürger. Vom frühen Morgen an. Männer in braunen Uniformen seien das gewesen, erinnert sich Willi Becker, ein Zeitzeuge. Er war damals acht Jahre alt und an der Hand seiner Mutter unterwegs. „Aber auch normale Menschen haben mitgemacht, meistens mit breiten Stiefeln“, berichtet er. Andere haben herumgestanden: „Da haben alle nur zugeguckt, da hat keiner was gesagt“.

Meine Großmutter lebte damals in der Innenstadt, nicht weit von der Synagoge entfernt. Sie muss gut fünfzig Jahre alt gewesen sein. Wo war sie an diesem 7. November? War sie auch unterwegs zum Markt? Sie hat mir nie davon erzählt.

Warum hat die Reichspogromnacht in Kassel schon zwei Tage früher stattgefunden? Und schon vom frühen Morgen an? Historiker vermuten, der 7. November in Kassel sei für die Nazis eine Art „Testlauf“ gewesen. Wenn die gewaltsamen Plünderungen in Kassel funktionierten, könnte man zwei Tage später im ganzen Reich zuschlagen. 

Was wäre geschehen, wenn die normalen Kasseler Bürger damals das Unrecht beim Namen genannt, nicht geschwiegen und nicht weggesehen hätten?

Was wäre geschehen, wenn sie sich zu Friedensgebeten getroffen hätten wie später die Menschen in der DDR? Mit Kerzen auf die Straßen gegangen wären? Vielleicht wären aus Wenigen auch Viele geworden? Wie die Vielen in Leipzig und anderen Städten, die sich nicht mehr bespitzeln, überwachen und einsperren lassen wollten? 

Zivilcourage statt Bürgerwehren, Zivilcourage gegen Bürgerwehren!

Die Dietrich-Bonhoeffer-Gesellschaft schreibt in einer Öffentlichen Erklärung vom August 2019:

„‚Zivilcourage‘ bedeutet: Das Eintreten für die Menschenwürde aller Menschen, die in unserem Lande leben, muss zur Selbstverständlichkeit werden. … Sie muss sich aktiv im Eintreten für die bewähren, die unter Fremdenhass, Rassenwahn und Menschenverachtung zu leiden haben.“ 

Jesus sagt: „ Lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt. 5,16)

Am 11. November ist St. Martin. Die Tat des Heiligen Martin feiern wir noch heute, obwohl das schon viele hundert Jahre her ist. Die unerwartete, barmherzige Tat an einem frierenden Bettler, einem Mitmenschen. Auch das braucht Mut: Im Namen der Menschlichkeit Schranken zu durchbrechen.

Damals wie heute. Auf jeden einzelnen von uns kommt es an. Auf jede noch so kleine Begegnung.