Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich auf eine umfassende Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. Die Reform sieht Grenzverfahren und Abschiebungen in “sichere Drittstaaten” vor. Das Interview von Donata Hasselmann mit dem Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl zu den wichtigsten Fragen entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung dem Mediendienst Integration

VON DONATA HASSELMANN

MEDIENDIENST Integration: Heute morgen hat sich die EU auf ein neues gemeinsames Asylsystem geeinigt. Was sind die größten Neuerungen?

Maximilian Pichl: Vorweg: Es gibt jetzt zwar eine politische Einigung, aber noch keine endgültigen Gesetzestexte. Alle meine Antworten beruhen daher auf den Informationen, die aktuell bekannt sind.

Es gibt drei große Neuerungen: Erstens werden die EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen verpflichtet, sogenannte Grenzverfahren für Asylsuchende durchzuführen und sie direkt von dort abzuschieben. Zweitens werden die Standards für sogenannte „Sichere Drittstaaten“ abgesenkt. Und drittens soll es einen Solidaritätsmechanismus geben – der allerdings keine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden unter den EU-Mitgliedsstaaten vorsieht.

Fangen wir vorne an: Was soll zukünftig passieren, wenn Asylsuchende an einer EU-Außengrenze ankommen?

Sie werden einem verpflichtenden „Screening“ unterworfen. Die Menschen werden faktisch inhaftiert, damit sie an dem Ort des Screenings und des Grenzverfahrens bleiben. Hier wird geschaut: Wer ist die Person, welche Dokumente hat sie, und welche Art von Verfahren soll sie bekommen. Hier wird dann auch entschieden, wer ins Grenzverfahren muss.

© Adrian Oese

Was ist das Grenzverfahren?

Das Grenzverfahren ist ein Schnellverfahren. Die Leute werden bis zum Abschluss des Verfahrens vermutlich in sogenannten „closed controlled centers“ festgehalten, also faktisch inhaftiert. Geprüft wird, ob die Person direkt in ihr Herkunftsland oder in einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ abgeschoben werden kann.

Und wer muss in das Grenzverfahren?

Alle Personen, die aus einem Land kommen, welches EU-weit eine Schutzquote von unter 20 Prozent hat, müssen ins Grenzverfahren. Aber auch Personen, die über einen sogenannten „sicheren Drittstaat“ gekommen sind, können in das Grenzverfahren geschickt werden.

Müssen Personen etwa aus Syrien oder Afghanistan auch in das Grenzverfahren?

Das ist nicht ausgeschlossen. Wenn sie über einen „sicheren Drittstaat“ gekommen sind, darf der jeweilige EU-Mitgliedsstaat auch sie ins Grenzverfahren schicken. Konkret bedeutet das: Die Fluchtgründe der Personen – etwa aus Syrien, Afghanistan, Irak oder auch Eritrea – werden in diesem Fall überhaupt nicht geprüft. Die EU führt für diese Leute dann kein echtes Asylverfahren mehr durch. Es wird lediglich in einem sogenannten Zulässigkeitsverfahren geprüft, ob man die Person in den Drittstaat abschieben kann.

Was sind diese „sicheren Drittstaaten“?

Die EU-Mitgliedsstaaten können Staaten als „sicher“ deklarieren, die das oft nur auf dem Papier sind. Es gibt ein paar Kriterien, etwa, dass der Staat eine gewisse Sicherheit bieten muss. Die Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention ist keine Bedingung für die Einstufung. Insgesamt werden die Standards, was als „sicher“ gilt, durch die neue Reform massiv abgesenkt. So soll es zukünftig ausreichen, dass nur Teile eines Staates sicher sind.

Ist das „Ruanda-Modell“ eine Möglichkeit in Grenzverfahren, also Asylsuchende in ein anderes Land zu überstellen, damit sie dort den Asylantrag stellen?

Nein. Der jeweilige Asylsuchende muss auch nach neuem EU-Recht irgendeine Verbindung zu dem „sicheren Drittstaat“ haben. Diskutiert wurde etwa ein vorheriger längerer Aufenthalt oder die Durchreise durch den Staat. Damit ist die sogenannte Ruanda-Lösung vom Tisch, also eine Abschiebung in irgendeinen Staat, den der Asylsuchende vorher nie betreten hat.

Kann man gegen die Entscheidung, dass man ins Grenzverfahren muss, rechtlich vorgehen?

Nein, es ist kein Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung vorgesehen.

Sind Familien mit Kindern vom Grenzverfahren ausgenommen?

Nein. Offenbar hat sich der Rat der EU auf die letzten Meter gegen das Europäische Parlament durchgesetzt und Ausnahmen für Familien sind nicht vorgesehen. Nur unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind ausgenommen.

Stellt das Grenzverfahren einen Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention dar?

Meines Erachtens ja. Laut der UN-Kinderrechtskonvention sind alle Personen unter 18 besonders schutzbedürftig. Im Grenzverfahren werden die Kinder in den „closed controlled centers“ festgehalten werden, die sie nicht verlassen dürfen. Das ist faktisch eine Inhaftierung und widerspricht dem Kindeswohl.

Der EuGH hat 2020 geurteilt, dass Asylsuchende nicht einfach nur, weil sie einen Asylantrag stellen, in Haft genommen werden dürfen. Stellen die Grenzverfahren dann nicht auch in Bezug auf Erwachsene einen Verstoß gegen EU-Recht dar?

Die Grenzverfahren werden zu faktischen Inhaftierungen der Asylsuchenden führen. Wenn der EuGH in Zukunft zu den Grenzverfahren urteilt, wird das auf Grundlage des neuen EU-Rechts, aber auch der EU-Grundrechtecharta geschehen. Und die enthält Garantien, gegen die die Grenzverfahren verstoßen.

Im Falle einer Krise oder einer Instrumentalisierung von Asylsuchenden – also etwa einer Situation wie 2021, als der belarussische Präsident Lukaschenko gezielt Personen an die EU-Grenze schickte – sollen zukünftig andere Regeln gelten. Welche?

In diesen Fällen dürfen die EU-Mitgliedsstaaten die Personen an den Grenzen für einen längeren Zeitraum nicht registrieren und auch die Asylverfahren können sich verlängern. Dazu kommt: Die Mitgliedsstaaten können dann mehr Gruppen in die Grenzverfahren schicken – im Falle einer „Instrumentalisierung“ sogar alle, egal aus welchem Staat sie kommen.

Wie können sich Asylsuchende gegen all diese neuen Regeln rechtlich zu Wehr setzen?

Das wird sehr schwierig werden. Es gab schon Blaupausen für Grenzverfahren, nämlich auf den griechischen Inseln im Kontext des EU-Türkei-Abkommens. Hier hat man gesehen: Tausende Asylsuchende werden an den Grenzen Europas festgesetzt, aber es gibt ja dort nicht plötzlich hunderte Anwälte, die vor Ort wohnen und für Klagen zur Verfügung stehen. Es ist also auf faktischer Ebene kaum möglich, Rechtshilfe zu bekommen. Hinzu kommt: Gegen die Entscheidung, dass man ins Grenzverfahren geschickt wird, hat man auch rechtlich überhaupt gar keinen Rechtsbehelf.

Ist die Reform das Ende von „Dublin“, also der Regelung, dass immer das Land, in das der Asylsuchende als erstes einreist, für das Asylverfahren zuständig ist?

Nein. Es heißt zwar nicht mehr so, aber es bleibt beim Alten: Das Land der ersten Einreise bleibt prinzipiell zuständig. Es gibt aber eine Verschärfung für Asylsuchende, die weiterreisen: Sie sollen gar keine Sozialleistungen mehr bekommen. In Deutschland ist das verfassungswidrig, das hat das Bundesverfassungsgericht 2012 entschieden und 2022 nochmal bekräftigt.

Gibt es einen verbindlichen Verteilmechanismus – also einen Mechanismus, der dazu führt, dass die EU-Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen nicht für alle Asylsuchenden zuständig sind, sondern die Zuständigkeit auf alle EU-Mitgliedsstaaten fair verteilt wird?

Nein. Kein Mitgliedsstaat wird verpflichtet, bestimmte Kontingente oder Prozente der ankommenden Asylsuchenden aufzunehmen. Wer niemanden aufnehmen will, kann eine finanzielle Kompensation leisten. Diese kann an EU-Mitgliedsstaaten gehen, aber auch an Drittstaaten wie Tunesien, die Asylsuchende von der Flucht nach Europa abhalten sollen.

Ab wann wird das neue EU-Recht gelten? Was muss Deutschland tun zur Umsetzung?

Vermutlich wird es in circa zwei Jahren in Kraft treten. Dann wird es sehr schnell gehen, denn die neuen Regelungen sind größtenteils Verordnungen – die gelten direkt und unmittelbar in den Mitgliedsstaaten, in Deutschland muss also etwa der Bundestag dem Ganzen nicht zustimmen.

Wird diese Reform die Migration „eindämmen“ oder „ordnen“?

Ich denke eher das Gegenteil: Diese Reform wird zu Chaos führen, weil sie an vielen problematischen Instrumenten des alten GEAS festhält und diese sogar verschärft – also genau daran festhält, was das Asylsystem in diese Dauerkrise gebracht hat. Sie wird auch nicht zu weniger Flucht führen, denn die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen, werden nicht angegangen. Mit der Reform bekommen die Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen keine Anreize, Personen menschenrechtsgemäß aufzunehmen, effektive Schutzmechanismen gegen Pushbacks sind nicht geplant. Stattdessen werden Asylsuchende in der EU stärker als je zuvor entrechtet, viele haben keinen Zugang mehr zu einem echten Asylverfahren.

Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl ist Rechts- und Politikwissenschaftler und hat die Professur für Soziales Recht an der Hochschule RheinMain inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Flüchtlingsrecht sowie deutsche und europäische Asylrechtspolitik.