Ein Wort zum Montag, dem 14. September 2020 

VON CORNELIA SENG

Ich bin ein Nachkriegskind. Die deutsche Nationalhymne haben wir in der Schule nicht gesungen. Meine Eltern blieben merkwürdig stumm, wenn es um die Nazi-Zeit ging. Über die mehr als sechs Millionen geplant ermordeten Menschen im Holocaust wurde nicht gesprochen. Die Trümmer des Krieges waren in Kassel noch lange sichtbar. Manche Männer hatten nur ein Bein oder nur einen Arm, man nannte sie „Kriegsversehrte“. Die Folgen von Nationalismus und Rassenwahn haben meine Kindheit begleitet. Wie konnte das passieren, dass Deutschland derart viel Leid und Zerstörung über die ganze Welt gebracht hatte?

Als 2015 vermehrt Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war ich deshalb zunächst verwundert. Wollten sie wirklich nach Deutschland? Trauten sie Deutschland wirklich zu, mit ihnen menschenwürdig umzugehen? Ich war dankbar für das Vertrauen, das sie in Deutschland setzten.

Offenbar ging das vielen Menschen so. Jetzt konnten wir zeigen, dass wir gelernt hatten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Auf die Väter und Mütter des Grundgesetzes bin ich stolz. Und auf die vielen Menschen, die in diesen Tagen das Grundgesetz mit Leben erfüllten.

Es entstand die Willkommenskultur überall im Land. Auch in Wermelskirchen haben wir nicht lange auf Maßnahmen von Behörden gewartet. Als mündige Staatsbürger*innen haben wir selbst organisiert, was nötig war. Durch unser Tun haben wir definiert, was wir unter „den Fremden aufnehmen“ verstehen. Wir haben Menschen mit dem Nötigsten versorgt, Sprachkurse organisiert, sie begleitet und haben ihnen geholfen, wenn möglich, Arbeit zu finden. Die Zivilgesellschaft hat frei und unabhängig von Maßnahmen und Projekten der Behörden das deutsche Grundgesetz mit Leben erfüllt.

Was bedeutet es, wenn Politiker heute ständig sagen „2015 darf sich nicht wiederholen“? Darf sich nicht wiederholen, dass Bürger und Bürgerinnen das Grundgesetz beherzt leben? Dass sie verstanden haben, dass jeder Mensch, besonders der Fremde, eine ihm von Gott gegebene Würde hat?

Heute, fünf Jahre später, haben die Regierenden – auch in Deutschland – das Ayslrecht weitgehend ausgehöhlt. Die Flüchtlingspolitik setzt auf Abschreckung durch Verelendung und Ertrinkenlassen. Die Lager in Griechenland, die man „Durchgangslager“ genannt hat, sind zur Dauereinrichtung geworden. Das reiche Europa weigert sich, das Asylrecht umzusetzen. Europa verliert seine Humanität. WIR verlieren unsere Menschlichkeit! Wohin wird diese Herzlosigkeit uns führen? Damals nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs wollten die Deutschen es anders machen.

Aber es gibt sie: Menschen die Haltung zeigen, Städte die Flüchtlinge aufnehmen wollen. „Was ihr getan habt einem von meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus (Matth. 25,40b). Er ist eindeutig auf der Seite der Menschen in Moria.